50. Die Wehmut

[315] Mit leisen Harfentönen

Sei, Wehmut, mir gegrüßt!

O Nymphe, die der Thränen

Geweihten Quell verschließt!

Mich weht an deiner Schwelle

Ein linder Schauer an,

Und deines Zwielichts Helle

Glimmt auf des Schicksals Bahn.


Du, so die Freude weinen,

Die Schwermut lächeln heißt,

Kannst Wonn' und Schmerz vereinen,

Daß Harm in Lust verfleußt;

Du hellst bewölkte Lüfte

Mit Abendsonnenschein,

Hängst Lampen in die Grüfte

Und krönst den Leichenstein.


Du nahst, wenn schon die Klage

Den Busen sanfter dehnt,

Der Gram an Sarkophage

Die müden Schläfe lehnt;

Wenn die Geduld gelassen

Sich an die Hoffnung schmiegt,

Der Zähren Tau im nassen,

Schmerzlosen Blick versiegt.


Du, die auf Blumenleichen

Des Tiefsinns Wimper senkt,

Bei blätterlosen Sträuchen

Der Blütenzeit gedenkt,[315]

In Florens bunte Kronen

Ein dunkles Veilchen webt,

Und still, mit Alcyonen,

Um Schiffbruchstrümmer schwebt:


O du, die sich so gerne

Zurück zur Kindheit träumt,

Selbst ihr Gewölk von ferne

Mit Sonnengold besäumt;

Was uns Erinn'rung schildert,

Mit stillem Glanz verbrämt,

Der Trennung Qualen mildert

Und die Verzweiflung zähmt;


Der Leidenschaften Horden,

Der Sorgen Rabenzug

Entfliehn vor den Akkorden,

Die deine Harfe schlug;

Du zauberst Alpensöhnen,

Verbannt auf Flanderns Moor,

Mit Sennenreigentönen

Der Heimat Bilder vor.


In deinen Schattenhallen

Weihst du die Sänger ein,

Lehrst junge Nachtigallen

Die Trauermelodei'n;

Du neigst, wo Gräber grünen,

Dein Ohr zu Höltys Ton;

Pflückst Moos von Burgruinen

Mit meinem Matthisson.


Rühr unter Thränenweiden

Noch oft mein Saitenspiel;

Verschmilz auch Gram und Leiden

In süßes Nachgefühl;[316]

Gieb Stärkung dem Erweichten!

Heb aus dem Trauerflor,

Wenn Gottes Sterne leuchten,

Den Andachtsblick empor!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 315-317.
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