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[72] Von heißer Lebenslust entglüht,

Hab ich das Sommerland durchstreift;

Drob ist der Tag schön abgeblüht

Und zu der schönsten Nacht gereift.

Ich trete auf des Berges Rücken

Einsam ins offne Waldestor

Und beuge mich mit trunknen Blicken

Hoch in die stille Landschaft vor.


Am andern Hügel drüben steht

Im Sternenschein das liebe Haus;

Aus seinem offnen Fenster weht

Ein Vorhang in die Nacht hinaus.

Das ist fürwahr ein luftig Gitter,

Das mir mein Fräulein dort verschließt!

Nur schade, daß mir armem Ritter

Der Talstrom noch dazwischen fließt!


Zieh du für mich, mein leichter Sang,

Hinüber an der Liebsten Brust!

Vielleicht trägt ihr dein ferner Klang

Zu Herzen meine Dichterlust!

Ja, ich will ihr ein Ständchen bringen,

Das weithin durch die Lüfte schallt:

So spiele du zu meinem Singen,

O Sommernacht, auf Tal und Wald!
[72]

Dein Saitenspiel im Tale liegt,

Die feinen Silberbrünnlein all;

Den Tann, der auf den Höhn sich wiegt,

Laß rauschen drein, wie Orgelschall!

Das Elfensummen und das Kosen,

Das schwellend alle Kelche regt,

Vereine mit des Stromes Tosen,

Der seine Wogen talwärts trägt!


Im Süden zieht ein Wetter auf,

Schnell werb ich's für mein Ständchen an;

Doch nehm es fernhin seinen Lauf,

Daß ich es übertönen kann!

Die Mühlen sind die Hackbrettschläger

Zuhinterst in des Tales Grund,

Die Sterne meine Fackelträger,

Sie leuchten mir im weiten Rund!


Nun will ich singen überlaut

Vor allem Land, das grünt und blüht!

Es ist kein Baum so hoch gebaut,

Darüberhin mein Sang nicht zieht;

Will eine Liederbrücke schlagen

Aus meiner Brust in ihre Brust:

Herz! wandle drauf, bis es will tagen,

Und wecke sie zu gleicher Lust!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 72-73.
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