Der blinde Sänger

[55] Ελυσεν αινον αχος απ᾽ ομματων Αρης

Sophokles


Wo bist du, Jugendliches! das immer mich

Zur Stunde weckt des Morgens, wo bist du, Licht!

Das Herz ist wach, doch bannt und hält in

Heiligem Zauber die Nacht mich immer.


Sonst lauscht ich um die Dämmerung gern, sonst harrt

Ich gerne dein am Hügel, und nie umsonst!

Nie täuschten mich, du Holdes, deine

Boten, die Lüfte, denn immer kamst du,


Kamst allbeseligend den gewohnten Pfad

Herein in deiner Schöne, wo bist du, Licht!

Das Herz ist wieder wach, doch bannt und

Hemmt die unendliche Nacht mich immer.


Mir grünten sonst die Lauben; es leuchteten

Die Blumen, wie die eigenen Augen, mir;

Nicht ferne war das Angesicht der

Meinen und leuchtete mir und droben


Und um die Wälder sah ich die Fittige

Des Himmels wandern, da ich ein Jüngling war;

Nun sitz ich still allein, von einer

Stunde zur anderen, und Gestalten
[56]

Aus Lieb und Leid der helleren Tage schafft

Zur eignen Freude nun mein Gedanke sich,

Und ferne lausch ich hin, ob nicht ein

Freundlicher Retter vielleicht mir komme.


Dann hör ich oft die Stimme des Donnerers

Am Mittag, wenn der eherne nahe kommt,

Wenn ihm das Haus bebt und der Boden

Unter ihm dröhnt und der Berg es nachhallt.


Den Retter hör ich dann in der Nacht, ich hör

Ihn tötend, den Befreier, belebend ihn,

Den Donnerer vom Untergang zum

Orient eilen und ihm nach tönt ihr,


Ihm nach, ihr meine Saiten! es lebt mit ihm

Mein Lied und wie die Quelle dem Strome folgt,

Wohin er denkt, so muß ich fort und

Folge dem Sicheren auf der Irrbahn.


Wohin? wohin? ich höre dich da und dort,

Du Herrlicher! und rings um die Erde tönts.

Wo endest du? und was, was ist es

Über den Wolken und o wie wird mir?


Tag! Tag! du über stürzenden Wolken! sei

Willkommen mir! es blühet mein Auge dir.

O Jugendlicht! o Glück! das alte

Wieder! doch geistiger rinnst du nieder,


Du goldner Quell aus heiligem Kelch! und du,

Du grüner Boden, friedliche Wieg! und du,[57]

Haus meiner Väter! und ihr Lieben,

Die mir begegneten einst, o nahet,


O kommt, daß euer, euer die Freude sei,

Ihr alle, daß euch segne der Sehende!

O nimmt, daß ichs ertrage, mir das

Leben, das Göttliche mir vom Herzen.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Stuttgart 1953, S. 55-58.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristoteles

Physik

Physik

Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«

158 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon